Der humanitäre Imperativ
Eigentlich erst einige wenige Wochen her, fühlt es sich an wie eine Ewigkeit, als ich am Montag im Kanzleramt von unseren Gesprächen in Polen zur Lage der Menschen auf der Flucht aus Ukraine berichte.
Deutschland unterstützt Polen bei der Unterbringung und Versorgung von Heim- und Waisenkindern aus der Ukraine. Das haben Bundesfamilienministerin Anne Spiegel und ich mit der polnischen Familien- und Sozialministerin Marlena Malag am 8. April in Warschau zugesagt. Wir waren 2 Tage vor Ort, um uns über die Aufnahme und Versorgung ukrainischer Geflüchteter im Nachbarland zu informieren. Begleitet wurden wir dabei von Desirée Weber von UNICEF Deutschland, Professorin Dr. Sabina Schutter, Vorstandsvorsitzende von SOS-Kinderdorf e.V. und Daniel Grein, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Kinderschutzbundes e.V.
78 % der Menschen, die aus Ukraine kommen, sind Frauen, darunter 56 mit Kindern, vor allem mit sehr jungen Kindern. Aber auch Ältere, darunter auch z.T. Holocaust-Überlebende, suchen derzeit Schutz in Deutschland. Ihnen allen sind wir verpflichtet.
Das alles wäre noch kein Tagebucheintrag, wenn es nicht so aufwühlend wäre.
Der humanitäre Imperativ: Menschenleben retten.
In einer Erstaufnahmeeinrichtung Nähe Warschau. Eine Frau spricht mich an, zeigt mir ihren Pass. Sie ist in Deutschland geboren, lebt in der Nähe von Kiew, ist gerade in Polen angekommen. Ich bleibe stehen, höre ihr zu , verstehe kein Wort, versuche aber aus dem Kontext schlau zu werden. Dann kommt eine Dolmetscherin dazu. Sie hat erst vor 2 Tagen ihren Mann verloren. Sie waren im Keller , er wollte versuchen Brot und Trinkwasser zu holen, draußen wurde geschossen, in ihren Armen ist er gestorben. Mit zwei Plastiktaschen und ihrem 12 Jährigen Sohn sind sie in das nächste fahrende Auto gesprungen. Keine Zeit für Beerdigung, Trauer, oder zu verstehen, was da passiert. Aber unendlich müde ist sie. Sie weint auf meiner Schulter. Um mich herum eine Delegation, Zeitplan drängt, ich soll bitte weiterlaufen. Keine Zeit – wirklich? Ich nehme mir die Zeit, bis die Tränen versiegen. Der Sohn nimmt die Mama in die Arme. Sie trauern – endlich – und wissen doch nicht, wie es weiter geht.
Wenige Stunden später, diesmal nahe der polnisch-ukrainischen Grenze. Aus dieser Aufnahmeeinrichtung sind vor kurzem einige Menschen mit Behinderungen Richtung Ursberg, also ganz bei uns um die Ecke, aufgebrochen. Sie brauchen dringend medizinische Versorgung, jetzt sind sie versorgt. Ein Kind, keine 5 Jahre. Alleine. Eltern verloren. Wir spielen mit einem Luftballon und das Kind lacht. Im Unwissenheit dessen, was das Leben ihm an Hürden auferlegen wird. Es vermisst die Mama, den Papa, aber Oma ist gefunden und wird morgen da sein. Aber jetzt in dieser Minute lacht das Kind und die Welt bleibt stehen.
Zurück in Deutschland, noch voller Eindrücke, so viel zu tun, voller Tatendrang. 1100 Waisenkinder sind inzwischen in Deutschland. Entsprechend der großen Solidarität, mit der sich alle deutschen Bundesländer an der Aufnahme von Kindern und Jugendlichen aus ukrainischen Heimen beteiligen, hat nunmehr Baden-Württemberg zugesichert, noch weitere derzeit in Polen untergebrachte Waisenkinder aus der Ukraine aufzunehmen.
Wir sind wieder zu Hause. Es ist Sonntag. Die Zeitungen berichten. Meine Ministerin ist unter Druck, aber nicht wegen ihrer Arbeit als Familienministerin. Am nächsten Tag wird sie zurückgetreten sein. Eine anstrengende Woche folgt. Eine Woche später, in der Türkei, meine Familie besuchen, meine Großmutter sehen, die ich wegen der Pandemie seit 2,5 Jahren nicht gesehen habe . Alles so aufwühlend, auch anstrengend. Dann kommt die eine Minute und ich denke an das Kind, die eine Minute, als die Zeit stehen blieb und wir beide Zeit hatten. Einfach so.
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