INSIDE BUNDESTAG – Der Tag, an dem die Welt verrückt spielte
Ein persönlicher Bericht vom 18. November 2020, dem Tag, an dem im Parlament das 3. Bevölkerungsschutzgesetz verabschiedet wurde.
Max Weber spricht in seinem Aufsatz „Politik als Beruf“ von Verantwortungsethikern und Gesinnungsethikern. Es gehört zur politischen Debatte, dass Leidenschaften der beiden Richtungen aufeinander knallen und es braucht Leidenschaft und Verantwortung für gute Entscheidungen. Unser Weg dazu ist von Debatten und Verhandlungen in der Politik geprägt. Aber mit gegenseitigem Respekt und Willen zur Einigung.
Dann gibt es Tage, da spielt weder Vernunft noch Leidenschaft eine Rolle. Diese Tage sind einfach nur verrückt.
So ein Tag war auch dieser Mittwoch. Im Plenum findet die Debatte um die epidemische Lage und die Parlamentsbeteiligung statt. Deutschland befindet sich mitten in der Pandemie und wir wollen Leben und Gesundheit aller schützen. Bisher stützen sich aber alle Maßnahmen auf die relativ allgemein gehaltene Generalklausel im Infektionsschutzgesetz.
Mit dem neuen Gesetz stellen wir die Bekämpfung der Pandemie auf eine solide gesetzliche Grundlage. Eine demokratische Legitimation ist wichtig, wir brauchen eine tragfähige rechtsstaatliche Grundlage.
Natürlich wäre es besser gewesen, die Debatte viel früher zu führen, natürlich wäre Konsens besser als Dissens. Aber als grüne Fraktion lassen wir uns von „Was wäre, wenn …“ nicht ablenken, sondern versuchen, mit einem hohen Koordinationsaufwand zwischen Bund- und Länderpositionen, zwischen den Fachkolleg*innen und der täglichen Lage mitten in einer Pandemie die Parlamentsbeteiligung zu leben und einzufordern und gemeinsam einen rechtssicheren Weg für weitere Beschlüsse zu schaffen.
Was so nüchtern klingt, schlägt vor der Tür hohe Wellen. Seit Tagen schon sind unsere Rechner mit Massenmails überfordert und unsere Telefonleitungen dauerbesetzt mit Menschen, die ihre Ängste verlautbaren. Das hat seine Berechtigung und gehört zur Demokratie dazu. Aber persönliche Beschimpfungen, Unterstellungen, Angriffe und Verbreitung falscher Tatsachen nicht. In der Inbox der Fraktion gehen in zwei Tagen etwa 25.000 solcher Mails ein. Die Abgeordneten können ihre Rechner nicht mehr hochfahren. Am Vortag werden wir angewiesen, am Tag der Abstimmung das Bundestagsgebäude bitte nicht zu verlassen, Gesprächstermine mit Partner*innen und Expert*innen abzusagen und bei An- und Abreise aus dem Büro mit Behinderungen zu rechnen. Tatsächlich legt der Tag noch einen Gang zu.
Umringt von Hundertschaften der Polizei zu arbeiten ist beängstigend; schlimmer ist es, bereits in der S-Bahn beschimpft zu werden, weil man eine Maske trägt. In den Reichstag kommen wir nur noch durch eine Art Schleusen mit unseren Ausweisen. Vor den Schleusen Chöre, Menschenansammlungen ohne Masken und Abstand und mit Aufrufen, den Reichstag einzunehmen, für sogenannte „Bürgerrechte“ und gegen die vermeintliche Corona-Diktatur.
Die Stimmen hallen bis in die Räume der Charité, dem größten Berliner Krankenhaus in Sichtweite des Bundestages, die heute Morgen gemeldet hat, dass alle Betten in der Intensivstation gefüllt sind. Was sich die Mitarbeiter dort denken, oder die Angehörigen der Menschen, um deren Leben sie bangen? Und wie es den Kranken wohl dabei geht?
Demonstrationen gehören zur Demokratie. An Hass, Hetze und Aggression will ich mich aber nicht gewöhnen.
Meine Mitarbeiter*innen und ich bereiten uns gerade im Büro auf die anstehende Haushaltsausauschusssitzung vor. Es sind über 100 Änderungsanträge der anderen Fraktionen zu bewerten, eigene Anträge zu schreiben und einzubringen. Mittendrin eine Nachricht von meinem Raumnachbar: „Du, da sind Leute, die verteilen Flugblätter in den Gängen“. Zeitgleich schreibt eine Kollegin über den Fraktionsverteiler: „Achtung, die kommen auch in eure Zimmer“. Draußen vor den Türen der Büros wird es laut. Ich greife meine Schlüssel und renne durch die drei Zimmer, die mir als Abgeordnete zugeordnet sind. Wie gut, dass wir Durchgangstüren haben, wir schließen die Türen ab. Auf Twitter geht ein Video um, wie Minister Altmaier von einer Person mit dem Handy gefilmt und bedrängt wird. Vor der Tür des Bundestages wird es laut, die Polizei setzt Wasserwerfer ein, innerhalb der Gebäude laufen Sicherheitskräfte und Polizei des Bundestages hin und her, an jeder Ecke steht inzwischen jemand in voller Montur. Ohne Ausweis geht gar nichts mehr. Die Ein- und Ausgänge in den Reichstag und die Liegenschaften sind inzwischen geschlossen.
Geht es den Leuten um Aufmerksamkeit in den sozialen Medien oder um echte politische Anliegen?
Im Plenum wird schließlich abgestimmt. Abgeordnete der AfD filmen mit Handys in die Reihen der Abgeordneten, die für das Gesetz stimmen. Es ist eine namentliche Abstimmung, nichts davon ist geheim, aber im Nahbereich gefilmt zu werden, hat etwas Bedrohliches. Es ist auch so gemeint.
Meine Tochter schickt mir eine SMS: „Mama, alles ok?“ – „Ja, alles gut“, antworte ich, doch eigentlich ist nichts gut. Über die Bildschirme flimmern dramatische Bilder von gewalttätigen Auseinandersetzungen vor dem Reichstag, in den sozialen Medien gibt es nur noch ein Thema.
Als Abgeordnete bin ich meinem Gewissen verpflichtet.
Ich habe schon manch eine schwierige Debatte hinter mich gebracht: Kompromiss zum Atomausstieg, Einsätze der Bundeswehr im Ausland, Hartz IV – immer ging es um die Sache, um Argumente, um Leidenschaft und Verantwortung. Niemals war Bedrohung und Einschüchterung im Spiel. Gemeinsam halten wir diesem Druck stand, davon bin ich überzeugt!
Es sind besondere Zeiten für alle: Bund und Länder haben weitreichende Maßnahmen ergriffen, um Leben und Gesundheit aller zu schützen. Dafür ist eine ausreichende, vom Parlament beschlossene Grundlage erforderlich. Diese wurde im Bundestag mit dem 3. Bevölkerungsschutzgesetz geschaffen.
Es ist klar: Das Gesetz kann nur ein erster Schritt sein. Unsere weiteren Forderungen und Klarstellungen hat die grüne Bundestagsfraktion in einem Änderungsantrag eingebracht.
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