Geschlechtergerechtigkeit: Eindimensionales Denken überwinden
Am 30. Oktober 2021 kam der 20. Deutsche Bundestag zu seiner ersten Sitzung zusammen. Diese wurde von Wolfgang Schäuble als dienstältestem Abgeordneten eröffnet. In seiner Rede, die seine letzte am Pult des Bundestagspräsidenten war, sprach er u.a. über das Spannungsverhältnis von Repräsentation und Repräsentativität:
„Verwechseln wir Repräsentation nicht mit Repräsentativität. Jede Einzelne von uns bildet nicht einfach einen Teil des Volkes ab. Der Artikel 38 GG ist eindeutig: Abgeordnete- jede Abgeordnete! – sind „Vertreter des ganzen Volkes“ (…) Wer Repräsentation mit Repräsentativität gleichsetzt, wird eine Fülle eklatanter Abweichungen finden.“
Die Hälfte der Bevölkerung ist weiblich: Das muss auch im Bundestag und in den Führungsetagen widerspiegeln
In diesem Absatz seiner Rede steckt mehr drin, als Worte es ausdrücken können. Zum einen wird der Auftrag zum Zusammenhalt statt zur Spaltung angemahnt. Zum anderen könnte aber auch hineininterpretiert werden, dass die Abbildung der Vielfalt in einer Gesellschaft in den Parlamenten nicht unbedingt notwendig ist, da ja ohnehin alle dem ganzen Volke verpflichtet sind. Ganz im Gegenteil, Vielfalt könnte sich zu einem Ursprung des Auseinanderfallens statt des Zusammenführens der parlamentarischen Verantwortung und der Gesellschaft entwickeln. Demnach wäre es am besten, wenn diese Vielfalt, wenn sie als eine Schwäche gesehen wird, besser zu vermeiden wäre.
Genau diese Einstellung ist aber eine Rechtfertigung für bestehende Verantwortungsstrukturen, die sich durch alle ebenen unserer Gesellschaft durchzieht: in der Wirtschaft, Verwaltung und ja eben auch in der Politik. Die Vielfalt der Gesellschaft findet sich bei weitem nirgendwo in den Entscheidungsetagen wieder. „Weiße Männer unter sich, die sich selbst genug sind“, könnte der Titel der Beschreibung der Führungsetagen in Deutschland lauten. Schauen wir uns z.B. den Anteil von Frauen – und das ist nur eines von zahlreichen Kriterien für Vielfalt – im 20. Deutschen Parlament an. Es sind gerade einmal 34,8 % im letzten waren es 30,7%. Die Hälfte der Bevölkerung ist weiblich. Demokratie heißt auch in den Volksvertretungen ein Abbild der Gesellschaft wiederzugeben. Auch wenn diese, wie Schäuble sagt „nie ein exaktes Spiegelbild der Bevölkerung“ sein werden. Den Anspruch sollten wir nicht aufgeben.
Warum? Hierzu will ich ein paar Argumente liefern.
Vielfalt stärkt die Resilienz und hilft, Fehler zu vermeiden
Frauen sind nicht besser als Männer, Migranten haben nicht einen besseren Blick auf die gesellschaftlichen Problemlagen, Mandatsträger müssen nicht erst Benachteiligungserfahrung mitbringen, um sich eben für Gleichberechtigung einzusetzen. Sie alle bringen aber einen anderen Blick auf die Probleme und auf die Entscheidungsfindung mit. Dieser „andere Blick“ minimiert Risiken der Entscheidungsfindung, bringt resilientere Ergebnisse hervor und vermeidet Fehler. Zahlreiche Studien aus der Wirtschaft und Wissenschaft bestätigen dieses. Um althergebrachte Strukturen zu rechtfertigen, werden deren Erkenntnisse aber klein geredet oder gar als ein Nachteil dargestellt. Das entstellt die Realität.
Bekannt ist: Monotone Strukturen sind Treiber für gesellschaftliche Krisen, weil der immer gleiche Blick auf Problemlagen eindimensionales Denken fördert und nicht die passenden Analysen zur Lösungsfindung bei vielschichtigen Problemen liefert.
Frauen müssen mehrere Hürden überwinden um Verantwortungspositionen zu erringen. Sie müssen besser in so ziemlich allem sein, um gleichermaßen wahrgenommen zu werden. Da gibt es erst mal die klassische gläserne Decke: Männer fördern Männer, Menschen ziehen als Nachwuchs in den Führungsebenen andere Menschen heran, die so ähnlich denken und handeln wie sie selbst. Vernetzungsstrukturen für Nachwuchsführungskräfte sind geschlossene Kreise, zu denen eben diese Männer besseren Zugang haben.
Immer noch zu oft: Frauen bleiben zu Hause, Männer machen Karriere
Wenn Karrieren von Männern und Frauen im Berufsleben starten, sind sie zu Beginn noch egalitär. Frauen haben zunehmend sogar die besseren Abschlüsse in Abitur und Hochschulen. Aber dann kommen die gesellschaftlichen Hürden und Rollenmuster dazwischen. Noch immer wird Erziehungs- und Pflegearbeit in unserer Gesellschaft vorwiegend von Frauen geleistet und auch von Frauen erwartet. Auch wenn mit Elterngeld, Ausbau der Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur in den letzten Jahren viel geschaffen wurde, statistisch gesehen bleiben Frauen zu Hause, Männer machen Karriere. Die Rollenmuster verändern sich nur ganz langsam, zu langsam. Mit Instrumenten wie Ehegattensplitting und Steuerklasse 3 und 5 belohnt der Staat mit Milliarden genau dieses Verhalten. Ist der Karriereverlauf erst mal unterbrochen, ist es in verfestigten Beförderungsstrukturen fast nicht möglich, diesen wieder aufzunehmen. Politik könnte hier anders sein, aber bis auf die Parteien mit klaren Bekenntnissen zur Quote, dominiert dieses Muster auch in politischen Karrierewegen.
Und hat es eine Frau dann trotzdem an die Spitze geschafft, kommen die kulturellen Hürden. Die bestehen aus Zuschreibungen der Kompetenz und Charisma. Letzteres bringen Frauen mit, letzteres können sie kaum beeinflussen. Denn seit Max Webers Analysen wissen wir, Charisma bleibt an die Wahrnehmung gebunden, ist von Werten und Normen und Zuschreibungen abhängig. In unserer männlich dominierten Entscheidungsstruktur findet diese Zuschreibung an Frauen nur in Ausnahmefällen statt und wird nicht mit weiblichen Eigenschaften in Verbindung gebracht. Ich will aus meinen eigenen Erfahrungen bestätigen, selbst wenn wir Frauen in der politischen Auseinandersetzung viel kompetenter auftreten, rhetorisch geschickter sind, die besseren Argumente haben, wird der Erfolg den männlichen Kollegen zugeschrieben. Männer gehen mit positiven Zuschreibungen nach Hause bei geringeren Leistungen, Frauen womöglich mit Sympathie, aber nicht mit Lob und Zustimmung. Frauen müssen für die gleiche Wahrnehmung einiges mehr bieten und schlicht und einfach besser sein.
Die Frage ist also: Warum sollten wir gerade dort, wo über das gesellschaftliche Miteinander entschieden wird auf die Besten verzichten? Warum wird das als eine Bedrohung zur Spaltung gesehen und nicht als ein Weg zu einem besseren Miteinander? Max Weber hat Recht. Wolfgang Schäuble, aus seinem Blickwinkel, auch. Aber es ist an der Zeit, beides zu verändern und das geht nur in dem wir die Vergangenheit loslassen und gemeinsam in die Zukunft blicken. In dem der Kanzler ein paritätisches Kabinett vorstellt. Because it`s 2021!
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