Abschied
Liebe Freundinnen und Freunde,
mit Augenmaß und Verantwortung Politik zu gestalten, war für mich immer eine Herausforderung, aber auch eine Berufung. In meiner Jugend hat mich dieser Weg zu den Grünen geführt und später zu einem Bundestagsmandat. Durch ein solches übernehme ich diese Verantwortung seit über 25 Jahren. Eine unfassbar lange Zeit in einem Betrieb, der im Alltag sehr herausfordernd ist.
Mein Mandat ist für mich ein Auftrag zu gestalten, Fragen unserer Zeit zu erkennen, Antworten darauf zu finden und diese in Begegnungen und Gesprächen zu vermitteln. Dazu gehört es, schwierigen Fragen nicht auszuweichen, immer weiter zu denken und sich selbst permanent weiterzubilden. All die Begegnungen über die Jahre haben mich immer bestärkt, weiterzumachen und die Herausforderungen mit Energie und Überzeugung anzugehen.
Mein Weg war immer geprägt durch meine Biografie als Migrantin und durch die schönen und weniger schönen Erfahrungen meiner Kindheit und Jugend. Junge Menschen mit ähnlichen Biografien wie ich erleben immer noch mehr Enttäuschungen und Entmutigungen als Zuspruch und Ermutigungen. Es gibt in ihrem Leben aber auch Menschen, womöglich den einen einzigen Menschen, der sie bestärkt und an ihrer Seite ist. Diese Menschen gab es auch in meinem Leben. Ich wollte auch dieser eine Mensch für andere sein. Den Unterschied machen.
Mein Mandat hat mir ermöglicht, einiges in diesem Sinne auf den Weg zu bringen. Vom Recht auf gewaltfreie Erziehung, besseren Kinderschutz im SGB VIII bis hin zu den Rechtsansprüchen auf Kitas und Ganztagsschulen, haben wir in den vergangenen Jahren einiges verändert und damit auch die Rechte der Kinder und Jugendlichen gestärkt. Diesen Weg werde ich auch weitergehen, wenn auch im Ehrenamt. Das hat mich immer motiviert und angetrieben.
Die schönste Zeit in meinem Mandat habe ich im Haushaltsausschuss erlebt. Ich danke dort allen Mitgliedern für ihre Kollegialität und lösungsorientiertes, pragmatisches Denken über Parteigrenzen hinweg. Das Budgetrecht des Parlaments ist ein sehr hohes Gut. Die Abgeordneten sollten dieses Recht immer in diesem Bewusstsein, aber auch mit Demut vor der Verantwortung wahrnehmen, vor allem aber das Kontrollrecht gegenüber der Regierung mit gebotenem Selbstbewusstsein, denn dazu berechtigt sie ihr Vertretungsauftrag durch ihr Mandat.
Keine Biografie kommt ohne die enttäuschenden Momente und Augenblicke des Scheiterns aus. Auch meine nicht. Diese will ich auch gar nicht verschweigen. Es gehört aber auch immer Mut dazu, Risiken einzugehen und vor allem einen Weg zu finden, gestärkt aus diesen Momenten herauszukommen.
Das Bewusstsein, das Privileg eines Mandats in einem demokratischen System zu genießen, hat mich zu beidem befähigt. Es war mir eine Ehre, den Titel Mitglied des Deutschen Bundestages zu tragen, Demokratie zu leben, zu vermitteln und leider in letzter Zeit immer häufiger verteidigen zu müssen.
Zu Letzterem sollten wir uns alle verpflichten. Denn es ist die beste Regierungsform, die wir kennen, und es geht um weit mehr als eine Staatsform. Unsere Bürgerrechte garantieren uns Freiheit in einer vielfältigen, bunten Gesellschaft, in der wir leben.
Ich komme aus einer sehr politischen Familie. Meine Großmutter war die erste Frau im Stadtrat in Tokat, Türkei – mutig und stark. Ihre Enkeltochter sitzt auf der Regierungsbank in Deutschland. Das macht auch mich mutig und zuversichtlich. Dennoch ist es an der Zeit, mich zu verabschieden. Ich werde bei den kommenden Bundestagswahlen 2025 nicht mehr antreten.
Ich danke meinem großartigen Kreisverband Neu-Ulm, meinem Wahlkreis Neu-Ulm/Günzburg/Unterallgäu und den dazugehörigen Grünen Kreisverbänden hier als auch in ganz Schwaben. Bei euch habe ich meine politische Heimat, meine Freundinnen und Freunde.
Der Landesverband Bayern, bei dem ich in unterschiedlichsten Funktionen mitwirken durfte, ist präsenter denn je. Bitte macht weiter so, Bayern braucht mehr Grün.
Ich danke meinem Team im Bundestagsbüro und im Ministerium. Ohne euch wäre mein Alltag trister. Erfolgreich konnte ich nur sein, weil wir ein großartiges Team sind, gerade und auch unter herausfordernden Bedingungen.
Vor allem aber danke ich meiner Familie für die Unterstützung, egal wo auch immer ich euch gebraucht habe – meinen Eltern und meinem Mann.
Ganz besonderer Dank geht an meine Kinder. Ich weiß, dass ich nicht immer für euch da sein konnte und womöglich den einen oder anderen schönen Moment verpasst habe. Aber ihr wisst es immer: Ich war und werde da sein, wenn ihr mich braucht. Genau dieses Wissen, dass es jemanden an ihrer Seite gibt, wollte ich auch anderen Kindern ermöglichen, die auf der Schattenseite des Lebens aufwachsen. In euch sehe ich, wie selbstbewusste, tolle junge Menschen, weltoffen und tolerant, Verantwortung übernehmen – und darauf bin ich sehr, sehr stolz.
Wohin mich mein weiterer Weg führen wird, kann ich noch nicht sagen. Ich schaue gespannt in die Zukunft, wie in den Worten von Hermann Hesse:
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten.
Herzlichst,
Ekin Deligöz
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