Besuch in Hanau
27.02.2020 |
Liebe Freund*innen,
eigentlich wollte ich euch von meinem Aufenthalt in Hanau nur kurz berichten. Dann wurde der Text länger. Manches lässt sich eben nicht in wenigen Worten ausdrücken. Ich hoffe ihr lest trotzdem. Mein Plädoyer für Mut und Zuversicht!
Es nieselt in Hanau, so ein leichter Regen. Yagmur çiseliyor – sagen wir im Türkischen. Über dieses Wetter wurden Gedichte geschrieben, Lieder gesungen in der türkischen Sprache. Unter dem Eindruck der Diskussion aus der Münchner Runde (Thema: Wie stoppen wir den Hass?), noch etwas aufgedreht, steige ich aus dem Zug in Hanau aus. Ich bin wütend und voller Trauer, um eine schreckliche Tat, entsetzt, weil ich keine Antwort für die Menschen habe, die mir in den zahlreichen Mahnwachen erzählen, dass sie Angst haben. „Wir haben doch alles richtig gemacht“ sagt mir eine türkeistämmige Frau in Memmingen auf dem Marktplatz. „Wir sprechen Deutsch, haben Arbeit, zahlen unsere Steuern, unsere Kinder sind gut erzogen und ausgebildet. Wir sind hier längst integriert und trotzdem hassen sie uns, warum?“ Ich habe keine Antworten darauf, ich kann ihnen keine Zuversicht, kein Optimismus mehr vermitteln. Dabei ist es genau das, was sie sich von mir als Politikerin erhoffen. Ich weiß manchmal selbst nicht mehr, woher ich diese Zuversicht hernehmen soll. Dennoch kämpfe ich für Zusammenhalt, für unser Miteinander, für Mut statt Angst, wenn auch derzeit etwas leiser.
Claudia Neumann, Grüne Stadträtin aus der Bayerischen Nachbargemeinde Alzenau und Karin Dornau aus dem Grünen Kreisverband in Hanau holen mich am Bahnhof ab. Kurzer Fußweg vom Hauptbahnhof und wir stehen im islamischen Teil des Friedhofs der Stadt. Meine Begleiterinnen erzählen mir von ihrer Region. Hanau hat viel Industrie, 50% der Einwohner*innen haben einen Migrationsgeschichte, aus vielen Generationen und Herkunftsländern. Eigentlich läuft alles gut, es wird viel gemacht in der Stadtgesellschaft: Rat der Religionen, interkulturelle Feste, Runde Tische, Investition in Bildung, in Kinder, in Stadtteile. Naja, da ginge noch mehr, aber…dann dieser Schock.
Wir stehen vor einem Grab von einem der jungen Männer, Ferhat Unvar. Zuversichtlich schaut er auf dem Foto an seinem Grab. Das Foto wurde gemacht an dem Tag, an dem er seine Ausbildungsprüfung bestanden hat. Sein Name verschwindet hinter einem Berg voller Blumen. Er hatte einen Job, gebürtiger Hanauer, ein Kind der Stadt, frisch verliebt. Daneben sind zwei vorbereitete leere Gräber. Morgen werden zwei weitere junge Menschen hier beerdigt. Die Friedhofsverwaltung und das Ordnungsamt erwarten 6000 Trauernde. „Wir müssen die Friedhofsmauer niederreißen. Wir brauchen Fluchtwege, wenn etwas passiert. 6000 Menschen, hier …“ sagt der verantwortliche Beamte.
„Die Stadt macht viel, wir wissen gar nicht was alles, aber viel“ sagt Karin. In dieser ruhigen Stadt, wo das Leben vor sich hin plätscherte, ist plötzlich Ausnahmezustand. Kamerateams und Journalisten belagern die Straßen, Menschen legen Blumen nieder. Erst war der Schockzustand, dann kam die Trauer, dann die Ruhe – vor oder nach dem Sturm, das können sie nicht so richtig sagen. Die Kanzlerin wird noch kommen, der Bundespräsident, eine Gedenkveranstaltung soll es noch geben. Ob sie als Hanauer teilnehmen können? Mal sehen, ob noch Platz für sie ist. „Da kommen so viele aus Frankfurt, Darmstadt..“ Ein Ort des Gedenkens soll entstehen, da gibt es schon einige Ideen. Der Bürgermeister hat es angekündigt. „Dann können auch wir Hanauer das Ganze verarbeiten.“
An dem Ort des Geschehens sind die Schaufenster dunkel. „Es ist aber auch ein trüber Tag, sagt mir eine Passantin“ nur die Blumen und die vielen Kerzen leuchten, mahnen, frieren auch – wie alle anderen. Ein Ort, wo niemand einfach so vorbei huschen kann, wie sonst. Es ist zu erahnen, dass genau hier mal Menschen gelacht haben, gechillt, wie es in der Sprache der Cafebesucher womöglich hieß, oder auch nur vorbei geschlendert sind. Manche Vorbeilaufende haben sich bestimmt nie rein getraut in diese Shishabar, andere sich täglich in den umliegenden Lokalen etwas zum Essen geholt. „Auf dem grünen Parteitag haben hier in den Hotels gegenüber und in dieser Straße ganz viele Delegierte übernachtet, sie kennen den Ort gut!“ sagt Claudia.
Wie geht es den Menschen, die hier leben? Sie verzeihen. Der türkische Verkäufer am Bahnhof klingt versöhnlich, so vernünftig. „Es ist unser zu Hause und wir werden Vertrauen Stück für Stück wieder aufbauen, abla (große Schwester auf TR) Wo sollen wir denn sonst hin, habe mein Leben hier verbracht. Ich bin Hanauer“ Die Verbände und Religionsgemeinschaften rufen zu Besonnenheit und Zusammenhalt auf. Auf dem Spielplatz vor der Schule spielen Kinder. Es sind Kinder, keine Migranten, Ausländer, Türken,Kurden, Deutsche- einfach Kinder. Der Alltag für sie ist wieder da. Irgendwie ist ihr Lärm das Beste an diesem Tag. Die Leichtigkeit macht Hoffnung. Hoffnung, dass wir diesen Hass vielleicht doch überwinden können. Wenn wir es lernen, wenn wir uns anstrengen. Wenn wir Mut haben, uns darauf einzulassen. Und manch eine Diskussion vom Vortag erscheint da oberflächlich dagegen.
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